Flipped Classroom – mehr als ein Hype?

Flipped Classroom – mehr als ein Hype?
7
Jun

Flipped Classroom ist aktuell eine der angesagten Methoden, um digitale Bildung in den Schulalltag zu bringen. Oder zumindest, um dies zu versuchen. Ist dies nur ein Hype oder bringt die Methode wirklichen unterrichtlichen Fortschritt?

Was benötigt digitale Bildung?

Auf das Leben in der digitalisierten Welt vorzubereiten ist eine der großen Herausforderung von Schule. Doch was bedeutet das? Vor welchen Herausforderungen werden die Schülerinnen und Schüler einmal stehen? Vor allem werden sie später flexibel, kreativ und selbstständig arbeiten müssen. Das bedeutet aber nicht, dass sie ein Schaubild mit Excel erstellen oder ein Bild mit Photoshop bearbeiten können müssen. Auch die Informationen sind nun jederzeit und überall vorhanden. Aber deren bloße Wiedergabe bedeutet noch keinen Wissenserwerb. Sie werden erst zu Wissen, wenn Informationen miteinander verknüpft, auf bestehendes Wissen bezogen und angewendet werden. Es ist die Aufgabe von Schule, dass Schülerinnen und Schüler diesen Schritt zunehmend selbstständig schaffen. Und genau hierbei unterstützt der Flipped Classroom. Denn Informationen liegen nicht mehr in der alleinigen Deutungshoheit der Schule und müssen nicht mehr ausschließlich im Klassenraum vermittelt werden.

Flipped Classroom vermittelt keine 4k

Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken und Kommunikation gelten als Schlüsselqualifikationen für das 21. Jahrhundert. Um sie den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, ist der Einsatz des Flipped Classrooms nicht zwingend notwendig. Zwar lässt sich in ihm ein klassischer Lehrervortrag wunderbar in ein Erklärvideo packen, im Unterricht erledigen die Schülerinnen und Schüler jedoch dann die Aufgaben aus dem Buch in Einzelarbeit. Die Ergebnisse werden schließlich im Plenum als Musterlösung angeschrieben. Mit diesem Vorgehen allein habe ich noch keinen Unterricht verändert oder verbessert. Ich dehne ihn nur zeitlich aus. So erreiche ich noch keinen echten Mehrwert. Allein der Flipped Classroom schafft also keinen echten Fortschritt, aber er kann ihn möglich machen.

Rolle der Kompetenzorientierung

Oft wird sie als nicht praxisrelevant abgetan: die Kompetenzorientierung in Kerncurricula. Richtig angewendet, bieten sie den Schülerinnen und Schülern aber eine gute Orientierung im eigenen Lernprozess. Aufgaben für die Präsenzphase nach den Anforderungsbereichen 1, 2 und 3 in leicht, mittel und schwer zu kategorisieren, hat sich als praktikabel erwiesen. Ist eine Schülerin fit und mit den leichten Aufgaben schnell fertig, hat sie mehr Zeit für die schwierigen Aufgaben, um dort kreative Lösungswege zu entdecken. Ein schwächerer Schüler besitzt umgekehrt mehr Zeit für leichte Auf-gaben und kann sich sicher sein, dass er, wenn er viel Zeit auf diese verwendet und sie sicher beherrscht, eine ausreichende Leistung erzielen wird. Die Lernvideos haben hieran aber nur einen geringen Anteil. Es ist vor allem der Zeitgewinn in der Präsenzphase, der besonders hilft. Die Ruhe, sich 45 (oder 90) Minuten mit eventueller Unterstützung der Lehrkraft mit Basisaufgaben beschäftigen zu können, habe ich als besonders gewinnbringend erlebt.

Kenntnis über Fakten und Informationen ist kein Wissen

Mit Auswendiglernen und Faktenwissen verschaffen in der digitalisierten Welt keinen großen Vorteil mehr. Informationen sind immer und nahezu überall zugänglich. Wichtiger wird das Filtern von Informationen, gute von schlechten Quellen zu unterscheiden, sich mit anderen zu einem Lernnetzwerk zusammenzuschließen. Dies sind Qualifikationen, die für ein lebenslanges Lernen benötigt werden. Dazu bietet der Flipped Classroom viele Möglichkeiten. Es fängt damit an, dass Schülerinnen und Schüler zu einem von mir erstellten Erklärvideo passende Informationen finden sollen (andere Videos, verschiedene Internetseiten, (Schul-)Bücher, …). Im Unterricht selbst findet dann die Verknüpfung statt, indem verschiedene Quellen verglichen, diskutiert und Kriterien für gute Quellen erarbeitet werden. Der nächste Schritt besteht darin, diese Fakten anzuwenden, aufeinander zu beziehen und in vorhandene Wissensstrukturen zu integrieren. In Mathematik sind das vor allem Aufgaben, die verschiedene Themenbereiche aus (bspw.) der Geometrie und Algebra miteinander verknüpfen.

Flipped Classroom entlastet den Unterricht

Der Lehrerberuf und die damit verbundene Arbeitszeit ändern sich. Wenn ich den Unterricht schülerzentriert ausrichte, wird der Unterricht in der Präsenzphase für die Lehrkraft entlastet. Wir müssen nicht „das Thema in dieser Stunde noch durchkriegen“ oder Zeit einplanen, weil alle noch am Ende der Stunde ein Tafelbild mit der Musterlösung abschreiben müssen. Der Stress in der Stunde wird für alle geringer. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Unterricht weniger fordernd oder leistungsorientiert ist. Die Schülerinnen und Schüler bekommen durch die klarere Kompetenzorientierung eine deutliche Struktur in ihren Lernprozess und präzise Leis-tungsanforderungen. Der Lehrer oder die Lehrerin hat jedoch außerhalb der Präsenzphase mehr Arbeit durch das Filtern von Aufgaben, Formulieren von Leistungsanforderungen oder das Erstellen von Erklärvideos.

Fazit: Hype oder mehr?

Der Flipped Classroom ist momentan mit Sicherheit in aller Munde. Dies überstrahlt zum Teil auch Schwächen des Konzepts. Neue Besen kehren gut. Probleme zeigen sich oft erst, wenn die erste Verliebtheit verfliegt, wenn der Hype zum Alltag wird. Aber spätestens dann wird es Zeit, auf die Fakten zu schauen. Welche Lehren kann ich ziehen? Sicherlich wird mit einer gewissen Erfahrung im Flipped Classrom schnell klar, dass sich die Rolle des Lehrers im 21. Jahrhundert verändern muss. (Ja, ich kann diesen Satz auch nicht mehr lesen, aber er ist dennoch wahr.) Unterricht kann nicht für alle Schülerinnen und Schüler im gleichen Takt und Tempo erfolgen. Dazu fehlen jedoch oft der organisatorische Rahmen und/oder die Zeit. Der Flipped Classroom ist hier nicht die einzige, aber doch eine sehr praktikable und im bestehenden System umsetzbare Antwort auf die Frage, wie chancengerechter Unterricht erfolgen kann. Kein von Grund auf neues Konzept, jedoch ein Rahmen, der viele Ideen zusammenführt und handhabbar macht. Er bietet mit Anpassungen allen Schülerinnen und Schülern die Perspektive, mit eigener Anstrengung jede Leistung erbringen zu können. Nur eben nicht mit gleichem zeitlichen Aufwand.

Die Methode des Flipped Classroom ist durchaus positiv zu sehen. Sie allein macht den Unterricht nicht zwingend moderner, schülerzentrierter und handlungsorientierter, bietet aber einen leicht umsetzbaren Rahmen, um dies im bestehenden System zu erreichen.

Jan Weber, jnwbr.blog/

Links

flipyourclass.christian-spannagel.de
wiki.zum.de/wiki/Flipped_Classroom
lehrer-online.de/artikel/fa/flipped-classroom
flippedmathe.de
180grad-flip.de
ivi-education.de